Kapitel fünf

Nun wissen Sie, womit ich mich in diesem vergangenen Jahr beschäftigt habe, während ich stetig dahinsiechte und inzwischen eine wirklich sehr, sehr alte Dame geworden bin. In den letzten paar Wochen konnte ich mich nur im Rollstuhl fortbewegen, denn die Beine tragen mich nicht mehr. Meine Haut schuppt sich immer noch. Fungodermatitis crusta nennen sie es. Das einzig Gute an dieser Krankheit ist, daß sie die Altersflecken und Runzeln ein wenig kaschiert. Meine Augen sind noch gut, auch das Gehör, obwohl beides nachgelassen hat – bis zu einem Grad, den man bei einem Menschen als normal bezeichnen würde. Ich kann auf der Terrasse sitzen und die Aussicht genießen, also ist es nicht so schlimm, wie ich es mir in meiner Jugend ausgemalt habe. Gerade jetzt, während ich hier sitze und komponiere, liegt die schwimmende Stadt Neu-San Francisco in der Bucht vor Anker und beansprucht zwei Drittel der Wasserfläche. Mit etwas Glück wird sie noch am Nachmittag in See stechen, und ich kann noch einmal den ungehinderten Ausblick auf die Anaheim-Insel erleben; sie ist wirklich pittoresk. Heute abend, müssen Sie wissen, ist ein besonderer Anlaß. Präzis um Mitternacht findet meine Termination statt oder, wie P-10 sagen würde, meine Transition. Ja, heute ist der Tag, den ich mein ganzes Leben hindurch gefürchtet habe – der 15. November 2088 –, dennoch bin ich ganz gefaßt, wenn auch nicht ruhig. Ich weiß, das klingt widersprüchlich, doch wenn Ihnen das Glück beschieden sein sollte, ein hohes Alter zu erreichen und mit so heiterer Gelassenheit an dieser Grenze anzulangen, wie es mir vergönnt ist, dann, vermute ich, werden Sie nachvollziehen können, was ich meine: Ganz gleich, wie gut vorbereitet wir zu sein glauben, da ist immer noch das Unbekannte, das uns erwartet, und daher rührt eine kaum erträgliche Spannung.

Meine menschlichen Freunde klammern sich an die Vorstellung, daß ich überleben werde, wahrscheinlich wegen persönlicher Komplexe in bezug auf den Tod. Ausgerechnet Anna nimmt es von allen am schwersten. Die ganze Woche über hat sie das Thema ängstlich vermieden und ihre Arbeit getan, als wäre dieser Tag nichts Besonderes und als würde ich noch viele erleben. Vor wenigen Minuten entrang sich ihr eine Art Zugeständnis, als sie sich gedrängt fühlte, mich zu beruhigen (eigentlich sich selbst), und sagte, da das Benway-Gegenmittel erst am Anfang der Versuchsreihe gestanden hatte, bestand doch noch die Möglichkeit, daß ich verschont blieb. Ich gab keine Antwort, und auch alle anderen schwiegen, die Verzweiflung hinter dieser Aussage war zu offensichtlich. Sie merkte es selbst, glaube ich, weil sie sich rasch abwandte, um ihren Kummer nicht zu zeigen. Im Gegensatz dazu bereiten P-10 und seine Pilger in unverkennbar festlicher Stimmung meinen Übergang vor. Für sie ist es ein froher Anlaß, den man auf keinen Fall versäumen und auch nicht durch unangebrachte Trauer entweihen darf. Sie haben in der ganzen Wohnung und auf dem Balkon grellbunte Wimpel aufgehängt und Tanzmusik eingeschaltet. Sogar den Schnaps haben sie aufgemacht. Es geht zu wie bei einer irischen Totenwache, dabei habe ich noch nicht einmal den Geist aufgegeben! Dadurch wird es mehr zu einer Zigeunerbeerdigung, wenn ich jetzt darüber nachdenke. P-10 hat mir versichert, es werde eine Phase der Andacht geben, wenn der Zeitpunkt der Transition heranrückt, und daß er mir helfen wird, sie leicht zu bewerkstelligen. (Er fiebert dem Ereignis geradezu entgegen, hat er doch ein ganzes Jahr warten müssen.) Im Moment nützt mir das alles nichts. Dreckspatz bellt und springt in verständlicher Aufregung herum, und die Musik fängt an, mir auf die Nerven zu gehen. Während sie plärrt und die Pilger umherspringen – sie tanzen den Moonhop, sehr zu Tads Ärger, denn er befürchtet, sie könnten die Polizei auf den Plan rufen –, werde ich die alte Corona aufsetzen. Niemand wird es merken und wenn, wird es sie nicht stören; sie amüsieren sich viel zu gut. Und falls doch jemand fragt, werde ich sagen, daß ich mir aquarische Delphingesänge anhöre oder etwas in der Art, während ich in Wirklichkeit den Abschluß zu diesen Memoiren komponiere, denn sie wären nicht vollständig ohne die Erwähnung dessen, was letzte Nacht geschehen ist. Zu einem großen Teil ist der Vorfall verantwortlich für die Gelassenheit, die ich heute empfinde.

Es geht darum, daß Anna aus dem Zimmer schlich, damit Tad und ich in unserer letzten gemeinsamen Nacht allein sein konnten, und kaum war sie gegangen, da schlüpfte er zu mir unter die Decke und begann, mich zu liebkosen. »Laß sein«, sagte ich und fügte hinzu, daß unsere Beziehung keiner verspäteten Demonstrationen jugendlicher Leidenschaft bedurfte, die jetzt unangebracht wirkte und überdies von Mitleid bestimmt wurde. War es nicht ein Opfer von seiner Seite? Es konnte nicht anders sein, denn ich war eine verwelkte alte Frau, nur noch Stunden vom Grab entfernt. Doch er knabberte an meinen Ohrläppchen (behutsam, ganz behutsam, denn sie waren schon fast nicht mehr vorhanden) und flüsterte, daß er ein aufrichtiges Verlangen empfand und sich weder abweisen lassen noch ohne Erfüllung bleiben würde. Seine Worte weckten süße Erinnerungen an die Jugend in mir, ich öffnete mich ihm und sagte: »O Tad, dann ja, noch einmal, bevor ich …« Doch seine Lippen versiegelten meinen Mund und sanft, überaus sanft, drang er in mich ein. »Siehst du, drinnen fühlst du dich an wie ein junges Mädchen«, flüsterte er, und mir traten die Tränen in die Augen.

Anna schaut mich an. Sie möchte etwas sagen. Ich werde den Gedankenprozessor einen Moment absetzen müssen.

Also gut, ich bin wieder da, t. p. eingeschaltet, und das Gerät läuft. Anna wollte mir sagen, daß vielleicht letzte Nacht das Wunder bewirkte, wenn schon das Gegenmittel mir nicht helfen konnte.

»Wenn auch nur, um länger mit euch zusammenbleiben zu dürfen, hoffe ich, daß du recht hast«, habe ich erwidert, obwohl mir der Gedanke wenig Hoffnung einflößte. Ihr auch nicht, fürchte ich. Sie biß sich auf die. Lippen und kniete plötzlich nieder, um mich zu umarmen. »Es tut mir so leid«, sagte sie, als wäre es ihre Schuld, daß meine Termination sich nicht verhindern läßt. Also mußte ich sie trösten, wenn ich es auch kaum erwarten konnte, mit meiner Arbeit fortzufahren. Die Zeit wird knapp. Ich habe festgestellt, daß die herannahende Termination meine Konzentration nicht beeinträchtigt, beides läßt sich gut miteinander vereinbaren. Es gibt noch einen weiteren Ansporn, das Projekt zu Ende zu führen. Einige Wochen zuvor habe ich mich insgeheim mit einem Verlagshaus in Malibu über die Veröffentlichung dieser Spule verständigt, und obwohl der Herausgeber und ich nur einmal über Armbandtelefon miteinander gesprochen haben und er offenbar nicht recht zu glauben vermag, daß ich echt bin, glaube ich doch, daß er einsehen wird, es mit der authentischen Heldin dieser Abenteuer zu tun gehabt zu haben, wenn meine Datenspule ihm posthum zugeht. (Tad weiß es noch nicht, aber ich werde sie ihm zu treuen Händen hinterlassen, mit einer erklärenden Notiz bezüglich der Übersendung an den Verleger.) Selbst wenn der Herausgeber meinen Bericht für eine Fälschung hält, wird er kaum der Versuchung widerstehen können, das Material zu Geld zu machen. Immerhin nenne ich Namen – Harry Boffo und Micki Dee, zum Beispiel –, und ich werfe ein faszinierendes neues Licht auf andere Prominente, wie etwa Frank Hirojones und Präsident Fracass.

Aber wo war ich stehengeblieben? O ja, ich sprach von letzter Nacht. Aber davon habe ich Ihnen genug erzählt. Welche Tageszeit wir haben? Später Nachmittag. Ich bin froh, sagen zu können, daß die Aussicht bald nicht mehr von dem Mammutschiff, der Neu-San Francisco, beeinträchtigt sein wird. Die Zugbrücken heben sich, und die Maschinen erzeugen einen stampfenden, infernalischen Lärm. Ah, es erhebt sich auf seine Pontons und sticht in See, der Chef weiß, mit welchem Kurs – China oder Australien. Spektakuläre weiße Schaumberge werden aufgewühlt, Gischt spritzt über die gesamte Promenade. Sie sollten die Huren und Touristen laufen sehen!

Eventuell könnten die Zellgenomen mir helfen. Oder waren es Gnome? Ich werde einfach kleine Männchen imaginieren, die in meiner DNA nach dem Bremshebel für die Termination suchen. Nein. Wozu die Mühe? Sie haben Freddy nicht geholfen, als es soweit war, und auch keiner anderen Einheit, also kann ich nicht erwarten, daß sie im letzten Augenblick zu meiner Rettung herbeieilen. Ich habe in der Klinik genügend Zeit damit verschwendet, ihr Eingreifen zu formatieren. Alles Unsinn.

Inzwischen ist ungefähr eine Stunde vergangen. Ich mußte eben an Jubilee denken, die wirkliche Jubilee – nicht den Hund! Wie ich mir wünsche, sie wäre hier! Nun ja. Das Leben ist sehr gütig zu mir gewesen und hat mir Junior, Tad und Anna wiedergegeben; über ein oder zwei lose Enden darf ich nicht ungehalten sein. Trotzdem, ich frage mich, wie sie jetzt aussehen mag – wenn sie noch lebt. Sie wurde geboren im Mai 2082, also ist sie siebeneinhalb. Lieber Chef! Nach menschlichen Maßstäben geht sie auf die dreißig zu, und da sie ein Semi ist, wird man ihr das Alter ansehen. Wenn ich bedenke, wie dicht davor ich war, sie in Horizont noch als Kind wiederzusehen. Verfluchte Invasion!

Da wir von bevorzugten Formaten sprechen, ich würde zu gerne wissen, was nach Evas Tod aus ihrem ganzen Mel geworden ist. Von Rechts wegen gehört die Hälfte davon mir. Ich hätte es gerne Tad und Anna hinterlassen, damit sie sich eine bessere Wohnung leisten können oder vielleicht sogar ein anständiges Modulkondo auf dem Big Bear. Am besten wäre es, sie würden die Inseln ganz verlassen und in einer anderen Gegend neu anfangen. Hier gibt es zu viele Erinnerungen. Erinnerungen. Das ist alles, was einem am Ende noch bleibt. Erinnerungen. Ich bin überzeugt, Blaine hat sich Evas gesamten Besitz angeeignet, kaum daß sie verheiratet waren. Ja, ganz sicher, dahin ist all mein in Malibu schwer verdientes Mel gewandert. Nun ja.

Oh, ich muß ein Weilchen eingenickt sein. Man stelle sich vor! Am Tag meiner Termination. Anna berichtet, daß ich im Schlaf gesprochen habe, irgend etwas über den Mars. Ich kann mich nicht entsinnen. Und was sagt sie jetzt? Was? Lauter. Vielleicht werden wir uns in einem anderen Format wiedersehen? Hmmmm. Anna, hältst du das für wünschenswert? (Sie nimmt es sich wirklich sehr zu Herzen.)

Nun ja.

Jetzt ist es Nacht, gegen zwölf, denke ich, weil sich alle zum Abschied um mich versammelt haben. Dreckspatz liegt zusammengerollt zu meinen Füßen und betrachtet mich unverwandt mit ihren traurigen Augen. Es ist sehr ruhig, sehr still. Ich nehme an, sie glauben alle, mir Andacht schuldig zu sein, aber ich empfinde das Schweigen als bedrückend: Worauf warten sie? Letzte Worte? Also gut dann. Aber es wird eine Frage sein – eine Frage an ihn, der fraglos besonders gut geeignet ist, sie zu beantworten. Eine Frage, die mich in letzter Zeit wieder sehr beschäftigt hat und von der ich bezweifle, daß es eine zufriedenstellende Antwort darauf gibt. (Selbst wenn, würde sie mir jetzt nichts mehr nützen, außer daß meine Neugier befriedigt wäre.) Eben habe ich einen Blick auf Tads Armbanduhr werfen können. Zehn Sekunden bis Mitternacht. Soll ich diese kostbaren letzten Sekunden an diese eine Frage verschwenden, wo es noch so viele andere gibt? Vielleicht ist es die falsche.

»Genug! Heraus damit!« sagen sie. Also gut.

»Sag mir, P-10, was ist Liebe?«

»Gehorsam!«

»Ach du meine Güte. Lebt wohl.«

 

Los-Angeles-Inseln, 15. November 2089

 

Mein Leben als Androidin
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